© Karl Vollmer

Gefährdung und Auftrag

Herz, was bist du so unruhig, aufgebracht?
Weil ich die Fliegen höre
und mir die Finger pelzig werden.
Dann zügle deine Zunge,
rasiere Kinn und Backen,
bereite dir und anderen ein Gericht,
schreib´ die anstehenden Geschichten auf
und geh´, geh in Gottes Namen, geh´,
tu´, was dir aufgetragen ist.

 

 

 

Luxus

Wir fliegen nach Süden,
Italien, Griechenland oder die Türkei
um uns endlich zu entspannen,
um Spass zu haben in der Wärme.
Und dann sind wir da
in der Hölle der Hitze,
des Feuers, des Wahnsinns.
Wir sehen die brennenden Wälder
im Hinterland der Hotelanlagen,
die Feuer kommen näher
wie die Bauern mit ihren Tieren,
die auf der Flucht vor dem Feuer
ans Wasser kommen, an den Strand
zu den Urlaubern, zu uns.
Draußen kommen schon die Schiffe,
uns Urlauber zu evakuieren.
Am Wasser Abschied vom Traum
des unbeschwerten Glücks.
Auszug aus der Hölle,
nach Haus´ ins Gewohnte zurück.
Und die Bauern und die Tiere? 

 

 

 

Moment

Sehen, spüren, wahrnehmen,
was ist und was nicht ist.
Aber auch bemerken,
was sich verändert hat,
seit gestern, seit letzter Woche,
seit dem letzten Monat, Jahr.
Was hat sich entwickelt,
was ist weniger geworden,
zeigt sich anders?
Wie sind die Pflanzen, Früchte
des Gartens gewachsen?
Wo sind wir, wie
in dieser Welt?
Den Zustand, den Prozess
spüren, jetzt, hier.

 

 

 

Muskelreiten

Als kleiner Junge, naiv und unbedacht
lernte ich die Regeln der Stärkeren,
der etwas älteren, etwas
stärkeren Jungs des Dorfes.
Wer den entscheidenden Ringkampf
zur Klärung verloren hatte
musste sich einordnen lassen,
unterwerfen lassen, eindeutig.
Der Alfa-Junge übte das
Recht des Muskelreitens aus.
Er hockte auf dem Unterlegenen,
kniete auf dessen seitlich
ausgebreiteten Oberarmen
und bewegte langsam die Knie
über den unterlegenen Bizeps,
hin und her, her und hin,
Knie, Bizeps, Oberarmknochen,
Reibung, Quetschung, Reibung.
Das tat mir sehr weh.
So habe ich gelernt,
wie sich Unterwerfung anfühlt,
damals, als kleiner Junge.

Heute kommt mir Putins
militärisches Spiel mit der Ukraine,
das Töten und Verstören
von Menschen, Kultur,
Gesellschaft und Zivilisation
aus purer Machtgier ähnlich vor;
Unterwerfung als Prinzip der Macht.

 

 

 

Primavera (für Uwe)

Ich feier´ den Frühling,
dass er kommt, bald.
Es wird mein letzter sein,
den ich lebe und spüre
in Freiheit und Würde.
Ich will Blumen ausbringen
und gießen und pflegen,
bevor es zu spät ist.
Die Zeit ist reif, Psalmen
und Hymnen zu singen
vor dem großen Tod und
Frieden zu bauen trotz
aller Trägheit und der Eigensucht.
Ich will auf Reisen gehen
und den Frühling begrüßen,
bevor es dunkel wird
in Europa. 

 

 

 

Sein oder gemacht sein

Vieles ist, wie es ist,
und wir können es in seiner Erscheinung
wahrnehmen, bestaunen, untersuchen,
aber wir können es nicht machen.

Vieles, das uns durch die Augen
und andere Sinne gegenwärtig wird
ist so, weil es von Menschen gemacht ist
mit Wissen und Tatkraft.

Wir müssen diese Zusammenhänge schon
unterscheiden in unserem Denken,
wenn wir die Welt und die Menschen
ein Stück weit besser verstehen wollen.

 

 

 

Zu den Inseln

Lasst uns zu den Inseln gehen,
fahren, segeln wie auch immer,
weit weg zu den Inseln
am Rande meines Wissens,
am Rande meiner Sprache,
meiner Menschenkenntnis,
Sachalin, die Osterinseln.

Fidschi, Grönland, Sankt Helena.
Die Inseln sind ein
Teil der Welt, weg
vom Festlandsblock,
vom festgestampften Land,
den großen Städten,
den vielen Bewohnern,
dem großen Beharren.

Die Inseln sind die Fremde,
das archaische Leben,
das unbekannte Bauen,
die fremden Bräuche,
das andere Essen,
die befremdlichen Dialekte
in den Sprachen.

Die leiernde Musik,
die indigenen Menschen,
Kultur abseits der Zentren,
Infrastruktur auf Abwegen,
das extreme Klima,
die lauernden Natur-
katastrophen ohne Hilfe.

Lasst uns die Welt erfahren
von den Rändern her. 

 

 

 

Zu Hölderlin

Ob es die Götter sind,
wie Hölderlin sagt, die
mich antreiben, beglücken,
Mut geben zur Selbstreflexion?
Ich weiß nicht, ob die Worte stimmen.

Jedenfalls ist etwas in mir,
meine kreative Unruhe,
meine Lust zu probieren, zu spüren,
was das macht, wenn ich
Dinge sprechen lasse, forme,
dass sie Körper, Dinge werden,
Düfte, Hüften, Blüten, Augen.

Sie werden ganz konkret,
fliegen durch den Kosmos
und mein Denken,
meine Finger, meine Welt.
Das Leben ist hineingehaucht
durch das Sagen,
Wort für Wort,
durch das Bilden,
Strich und Farbe.

Leben zum Fragen, ja.
Leben zum Prüfen,
ist es gut so?
Wir mit den Göttern,
dem einen...?

 

 

 

9. November 2024

 Heute –
Nach vielen Tagen des Nebels
und der schwadenverhangenen Kühle
brach die Sonne durch –
am Vormittag.
An den zart hellblau blühenden
Zweigen des Rosmarinstrauchs
tanzte eine große Anzahl Bienen,
die sich im warmen Sonnenlicht
an den Blüten labten.
Heute –
am 9. November 2024,
denkt an den Tag!